Im Oktober 2025 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit seiner Entscheidung in der Rechtssache C-134/24 („Tomann“) ein klares Signal zur Auslegung der unionsrechtlichen Vorgaben an das Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen gesetzt. Das Urteil betrifft Arbeitgeber, Rechtsberater, Betriebsräte und Arbeitnehmer gleichermaßen, denn es verpflichtet zu höchster Formalpräzision und bekräftigt die Bedeutung der ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige. In diesem Beitrag beleuchten wir die Hintergründe, den Inhalt und die Folgen dieses Urteils – stets mit Verweis auf den Volltext und den aktuellen Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung.
1. Hintergrund: Das Anzeigeverfahren bei Massenentlassungen und die Rechtsprechungslage
Das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) verpflichtet Unternehmen bei geplanten größeren Personalabbaumaßnahmen zur sorgfältigen Einhaltung eines Anzeigeverfahrens: § 17 KSchG sieht vor, dass der Arbeitgeber vor dem Ausspruch von Kündigungen nicht nur ein Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat durchzuführen hat, sondern auch eine Anzeige der beabsichtigten Entlassungen bei der zuständigen Agentur für Arbeit einreichen muss.
Die Anzeige muss sämtliche gesetzlich festgelegten Pflichtangaben („Muss-Angaben“) enthalten. Dies dient vorrangig dazu, der Agentur für Arbeit zu ermöglichen, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen vorzubereiten und gegebenenfalls anderweitige Vermittlungen zu initiieren.
Die gefestigte Rechtsprechung des BAG bestätigte bisher: Wird das Anzeigeverfahren nicht oder fehlerhaft durchgeführt, etwa wenn wesentliche Inhalte fehlen oder die Anzeige verspätet erfolgt, sind darauf gestützte Kündigungen wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot im Sinne von § 134 BGB nichtig.
2. Aktuelles EuGH-Urteil C-134/24: Strikte Anforderungen, keine Heilungsmöglichkeit
a) Anlass der Vorlage
Im Zentrum der Entscheidung standen Vorlagefragen des Bundesarbeitsgerichts (BAG), ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine nachträgliche Heilung einer fehlenden oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige möglich ist – etwa durch Nachholung der Anzeige nach bereits ausgesprochenen Kündigungen und Rückwirkung nach Ablauf der gesetzlichen Sperrfrist von 30 Tagen.
b) Kernaussagen des EuGH
Der EuGH hat diese Überlegungen unmissverständlich zurückgewiesen. Im verbindlichen Urteil heißt es sinngemäß, dass das unionsrechtliche Anzeigeerfordernis (nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 98/59/EG) verlangt, dass die Anzeige über die beabsichtigten Massenentlassungen vor Ausspruch der Kündigungen – und nicht nachträglich – der Arbeitsverwaltung vorliegen muss. Andernfalls verfehlt das Verfahren seinen Zweck, nämlich die Wirksamkeit von Maßnahmen zur Vermeidung oder Verzögerung der Entlassungen zu ermöglichen.
Die entscheidende Aussage lässt sich wie folgt zusammenfassen:
“Ein Nachholen der Anzeige nach Ausspruch der Kündigungen ist unionsrechtlich ausgeschlossen; die Einhaltung des zweistufigen, aufeinander aufbauenden Anzeige- und Konsultationsverfahrens ist zwingend – Kündigungen ohne vorherige Anzeige sind nicht wirksam. Die Achtung dieser Reihenfolge dient der Rechtssicherheit der betroffenen Arbeitnehmer, die unmittelbar überprüfen können müssen, ob das Verfahren eingehalten wurde.”
Eine spätere, nachträglich eingereichte Anzeige oder eine Nachholung fehlerhafter Angaben heilen diesen Mangel nicht mehr. Auch ein positives Votum oder eine Duldung der Arbeitsverwaltung („Nicht-Beanstandung“) ändert hieran nichts – Art. 3 und 4 der Richtlinie 98/59/EG sehen keinen entsprechenden Spielraum vor.
c) Ausblick: Keine Abweichung im nationalen Recht
Auch das nationale Recht – insbesondere die deutsche Praxis nach § 17 KSchG – bildet diese strikte Linie ab. Nach ständiger Rechtsprechung liegt bei Verstoß gegen Anzeige- oder Konsultationspflichten ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot vor, was mit § 134 BGB zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Diese strenge Rechtsfolge bestätigt nun auch die unionsrechtliche Ebene in voller Schärfe.
3. Konsequenzen für die betriebliche Praxis
a) Für Arbeitgeber und Beratende
Für Unternehmen – insbesondere in Krisen, Umstrukturierungen oder bei Insolvenz – bedeutet das Urteil, dass keine „zweite Chance“ im Anzeigeverfahren besteht. Selbst bei unverschuldeter Unterlassung oder vermeintlich geringfügigen Fehlern (fehlende oder unklare Angaben) können Arbeitgeber den Mangel nach Ausspruch der Kündigungen nicht mehr kurieren. Kündigungen werden dann mit großer Wahrscheinlichkeit von deutschen Gerichten für unwirksam erklärt, und zwar unabhängig davon, ob die Agentur für Arbeit die Anzeige beanstandet hat oder nicht.
b) Für Betriebsräte und Arbeitnehmer
Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter sind in ihrer Kontroll- und Beteiligungsfunktion gestärkt, da bereits formale Fehler oder Versäumnisse im Massenentlassungsverfahren konsequent gerichtlich justiziabel bleiben. Arbeitnehmer, die im Rahmen einer fehlerhaften Massenentlassung gekündigt wurden, besitzen unverändert eine starke arbeitsgerichtliche Position, um sich erfolgreich auf die Unwirksamkeit zu berufen.
c) Für die Praxisberatung
Fachanwälte und Berater sollten ihre Mandanten dringend auf die Notwendigkeit hinweisen, das Anzeigeverfahren zeitlich und inhaltlich vollständig sowie mit besonderer Sorgfalt durchzuführen. Jedes formale Risiko ist juristisch hochrelevant und kann massive wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen.
Zusammenfassung: Was bedeutet die Entscheidung für die Praxis?
Das aktuelle EuGH-Urteil C-134/24 führt die Linie der deutschen und europäischen Rechtsprechung fort und zieht die Konsequenzen für Fehler im Anzeigeverfahren nochmals merklich an. Eine nachträgliche Heilung fehlender oder fehlerhafter Anzeigen ist unionsrechtlich ausgeschlossen. Arbeitgeber, die Massenentlassungen planen, sind daher zu größter Präzision und Formaltreue verpflichtet, während Arbeitnehmer und Betriebsräte auf ein besonders scharfes Schutzregime vertrauen können. Die arbeitsrechtliche Beratung sollte dies in meine Mandatsarbeit konsequent einfließen lassen – und im Zweifelsfall alle Handlungsschritte des Anzeigeverfahrens dokumentieren und prüfen.
Bei Fragen zur Umsetzung im konkreten Fall oder zur rechtssicheren Gestaltung von Restrukturierungsmaßnahmen stehen wir Ihnen beratend zur Verfügung.